Georg Friedrich Händel, Giove in Argo
Freitag, 15. September 2006
und Samstag, 16. September 2006
Bayreuth, Markgräfliches Opernhaus
G. F. Händel, GIOVE IN ARGO
Ein Opernpasticcio
von Georg Friedrich Händel
Erstaufführung
1. Mai 1739, London, Haymarket Theatre
Erste moderne Wiederaufführung
Rekonstruktion des Opernpasticcios durch die
Musikwissenschaftler Steffen Voss (Hamburg)
und Dr. Thomas Synofzik (Köln/Zwickau)
Lisa Tjalve · Calisto (Sopran)
Tanya Aspelmeier · Iside (Mezzosopran)
Teresa Nelles · Diana (Sopran)
Benoît Haller · Aretes (Tenor)
Harry van der Kamp · Lycaon (Bass)
Markus Auerbach · Erastus (Bass)
COLLEGIUM CANTORUM KÖLN
«CONCERT ROYAL», Köln
Musikalische Leitung
Thomas Gebhardt
Regie
Igor Folwill
Ausstattung
Igor Folwill, Angela Schuett
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL
GIOVE IN ARGO
Composizione drammatica in tre atti
Pasticcio aus eigenen Werken und Neukompositionen G. F. Händels
nach dem Libretto von Antonio Maria Lucchini, Dresden 1719
»Giove in Argo« / »Jupiter in Argos« HWV A14
- Ein unbekanntes Opernpasticcio von Georg Friedrich Händel
Ein Pasticcio (italienisch: Pastete) ist eine Oper, in der Arien aus älteren Stücken zu einem neuen Ganzen zusammengestellt werden. Diese uns heute befremdlich anmutende Praxis war im 18. Jahrhundert gang und gäbe. Man nahm einfach den Text einer älteren Oper und fügte an die Stelle der originalen Arien solche Stücke ein, die für die aktuelle Sängerbesetzung am besten paßten und durch die der größtmögliche Publikumserfolg erzielt werden konnte. So war es möglich, an einem
Opernabend Musik von zahlreichen verschiedenen Komponisten zu hören.
Auch Georg Friedrich Händel versuchte in London mehrfach, solche Pasticci neben seinen Originalkompositionen anzubieten. Während er in den meisten Fällen erfolgreiche Werke italienischer Komponisten für die Londoner Verhältnisse adaptierte, gibt es auch drei Pasticci, in denen der Komponist fast ausschließlich eigene Musik aus älteren Stücken wiederverwertete. Neben dem bekannten Oreste, der schon mehrfach in heutiger Zeit erfolgreich aufgeführt wurde, und dem immer noch zu entdeckenden Alessandro Severo nimmt das dritte und letzte dieser
Stücke, Giove in Argo, eine ganz besondere Stellung ein, das es von allen anderen musikdramatischen Werken Händels unterscheidet.
Mehrere Dinge lassen das Werk ungewöhnlich erscheinen: es ist Händels einzige italienische Oper, in der nur tiefe Männerstimmen (1 Tenor, 2 Bässe) mitwirken, also keine Kastraten- oder Hosenrollen vorkommen, und es ist die Oper mit den meisten und umfangreichsten Chorsätzen.
Dies hat einen besonderen Grund: Giove in Argo, eines der letzten musikdramatischen Werke Händels, entstand zu einer Zeit, als das Interesse an italienischen Opern in London stark nachgelassen hatte. Es ist nicht nur ein bewußt kurzes Stück, das durch seinen pastoralen Charakter an Werke wie die englisch-italiensche Serenata Acis and Galatea und die Hochzeitsoper Atalanta erinnert. Mit den zum Teil ausgedehnten und virtuosen Chören, zum Teil mit prächtigen Partien für die beiden Hörner, wollte Händel vermutlich auch an den Erfolg seiner ersten englischen Oratorien anknüpfen.
Das Libretto der Oper stammt von dem venezianischen Dichter Antonio Maria Lucchini, der es für eine Vertonung durch Antonio Lotti in Dresden 1717 verfaßte. Die amourösen Verwicklungen des Göttervaters Jupiter mit zwei seiner sterblichen Geliebten, Io und Calisto, werden hier zu einer verwickelten Intrigenhandlung zusammengefügt, die wenig mit den altgriechischen Mythen zu tun hat. So fehlt völlig die in den Sagen an zentraler Stelle stehenden Verwandlung der beiden Mädchen in Tiere, Io in eine Kuh, Calisto in einen Bären (eine Reminiszenz an den Mythos ist der Auftritt eines Bären, der während der Jagd Isis verfolgt, aber von Osiris getötet wird), die eifersüchtige Juno fehlt völlig in der Geschichte. Unter den mythologischen Handlung verbirgt sich vermutlich eine heute schwer nachvollziehbare Huldigung des Mätressenwesens von Lottis Auftraggeber Augusts dem Starken. Die moralisch zweideutige Handlung wird wohl zu dem Mißerfolg des
Stückes beim sittenstrengen Londoner Publikum 1739 beigetragen haben.
Eine Erfindung Lucchinis ist die Tatsache, daß Calistos Vater Licaon den Vater der Io (hier unter ihrem ägyptischen Namen Isis auftretend), Inachus, umgebracht hat (Inachus war eigentlich ein Flussgott, also unsterblich, Lucchini macht aus ihm einen König von Arkadien). Daraus ergibt sich nun eine tragikomische Verwicklung: Um sich die beiden Mädchen gefügig zu machen, verspricht Jupiter, als Schäfer Aretes verkleidet, der einen, den Vater vor der Tochter des Ermordeten zu beschützen, der anderen, sie bei ihren Racheplänen gegen den Bösewicht zu unterstützen. So spielt er auf heimtückische Weise die beiden ahnungslosen Heldinnen gegeneinander aus und stachelt zusätzlich die Eifersucht von Isis' Verlobtem, dem Ägypterkönig Osiris, an, der ebenfalls als Hirte verkleidet durch die arkadischen Wälder irrt. Das einzige von Lucchini der Sagen tatsächlich entnommene Handlungselement ist das Keuschheitsgelübde, das die Jägerin Calisto gegenüber ihrer Göttin Diana geleistet hatte. Ihr (in der Oper: vermeintlicher) Wortbruch soll von der erzürnten Göttin gestraft werden, im letzten Moment verhindert jedoch das Eingreifen des Göttervaters, der nun seine wahre Identität preisgibt, die Hinrichtung. Isis gelingt es, Licaon auch ohne Hilfe Jupiters zu töten und versöhnt sich wieder mit ihrem Osiris.
Händel wird Lottis Oper auf seinem Besuch in Dresden 1719 gehört haben, dort sang der berühmte Senesino selbst die Rolle des Jupiter. Vermutlich nahm Händel ein Exemplar des Librettos mit nach England und erinnerte sich 1739 an das Melodrama pastorale, als er nach einem geeigneten Stück für eine kurze Pasticcio-Oper mit drei weiblichen Rollen suchte.
Was Giove in Argo von den übrigen Händel-Pasticci unterscheidet, ist die Tatsache, daß er neben älteren Stücken (aus Opern wie Alcina, Faramondo, Giustino, Il pastor fido oder auch dem 1738 komponierten, aber erst 1740 aufgeführten Imeneo, sowie aus den Serenaten Il parnasso in Festo und Acis and Galathea) einige Texte auch neu komponierte, so daß bei einer modernen Erastaufführung von Giove in Argo tatsächlich Händel-Musik erklingen könnte, die noch nie in moderner Zeit aufgeführt
worden ist, darunter drei hochdramatische Accompagnato-Rezitative.
Ein weiterer musikalischer Reiz liegt in den beiden großen Arien der Isis im zweiten und dritten Akt: diese stammen nämlich nicht von Händel, sondern sind der oben beschriebenen Pasticcio-Praxis entsprechend einer Oper des späteren russischen Hofkapellmeister Francesco Arraia entnommen.
Die Mezzosopranistin Lucia Piantanida wollte sich wohl mit diesen ganz neu aus Venedig mitgebrachten Einlagestücken als Vertreterin des modischen galanten Stils beim englischen Publikum empfehlen. Vor allem Rezitativ und Arie am Ende des zweiten Aktes kommen dem Zeitgeschmack entgegen, sind es doch typsische Vertreter der beliebten "Ombra-Szene", einer pathetischen musikalischen Geisterbeschwörung.
In Händels Pasticcio paßt diese Szene hervorragend, weil Isis hier durch den Schmerz über den ungerächten Tod des Vaters und die Vorwürfe ihres eifersüchtigen Verlobten in den Wahnsinn getrieben wird.
Die Musik des Giove in Argo muß mit Hilfe des erhaltenen Librettos aus den bekannten Opern Händels ergänzt werden, aus denen die einzelnen übernommenen Arien stammen, die Originalkompositionen Händels sind dagegen in Sammelhandschriften überliefert. Leider fehlen sämtliche Secco-Rezitative des zweiten und dritten Aktes, die bei einer modernen Inszenierung durch behutsame Neuvertonungen im Stile Händels ergänzt werden müssen. Als Ersatz für die fehlende Ouverture wählten wir ein selten gespieltes Stück Händels, die einzeln überlieferte Ouverture F-Dur HWV 342, die mit ihrem satten Hörnerklang wunderbar in den das Werk eröffnenden Chor überleitet.
Weitere Informationen:
Bayreuther Barock 2006