Chormusik der Romantik
Chormusik der Romantik
Franz Schubert · Felix Mendelssohn · Fanny Hensel · Johannes Brahms, »Liebesliederwalzer«
Klaus Brothun, Erzähler · Sabina vom Dorff u. Reinhard Kiauka, Klavier
COLLEGIUM CANTORUM KÖLN
Ltg. Thomas Gebhardt
Samstag, 5. September 1998 · 16.00 Uhr · Haus Lörick, Düsseldorf
Sonntag, 6. September 1998 · 17.00 Uhr · Remise Burg Wissem, Troisdorf
Programm
Franz Schubert
An die Sonne, D439
Die Geselligkeit, D609
Reitermarsch, Allegro vivace, D968b
Der Tanz, D826
Fanny Hensel
Im Wald, op.3,6
Felix Mendelssohn
Abschied vom Wald, op. 59,3
Fanny Hensel
O Herbst, o. op.
Johannes Brahms
Im Herbst, op. 104,5
Edvard Grieg
2 Norwegische Tänze Nr. 2 / Nr. 1
Felix Mendelssohn
Ruhetal, op. 59,5
Fanny Hensel
Abendlich, op. 3,5
Johannes Brahms
Ungarischer Tanz Nr. 2, d-Moll, Allegro non assai, o.op.
Liebeslieder-Walzer, op. 52 / op. 52a
1. Rede Mädchen, allzu liebes
2. Am Gesteine rauscht die Flut
3. O die Frauen
4. Wie des Abends schöne Röte
5. Die grüne Hopfenranke
6. Ein kleiner, hübscher Vogel
7. Wohl schön bewandt war es
8. Wenn so lind dein Auge mir
9. Am Donaustrande
10. O wie sanft die Quelle
11. Nein, es ist nicht auszukommen
12. Schlosser auf, und mache Schlösser
13. Vögelein durchrauscht die Luft
14. Sieh, wie ist die Welle klar
15. Nachtigall, sie singt so schön
16. Ein dunkeler Schacht ist Liebe
17. Nicht wandle, mein Licht
18. Es bebet das Gesträuche
»Schläft ein Lied in allen Dingen...«
Romantik - damit verbinden wir heute schwärmerische Gefühle, grüne Natur, Alltagsgegenstände in Blümchendekor, alles vielleicht ein bißchen altmodisch. Als die Romantik jedoch noch jung und unerhört modern war, umfaßte sie viel mehr. Sie war Ausdruck exzessiver Gefühle, nicht nur sehnsüchtiger Liebe und der Naturschwärmerei. Auch das Grauen der Wolfsschluchtszene im Freischütz wie die verschlüsselte Todessehnsucht in Caspar David Friedrichs Landschaftsbildern gehörten dazu. Die Romantik war eine junge Antwort auf altes Denken, das der Lebenswirklichkeit der neuen Generation nicht mehr entsprach.
Einst hatte die Epoche des Barock Ordnung hergestellt, in der äußeren wie der inneren Welt. Als logische Konsequenz beanspruchte dann die Aufklärung, mit den Mitteln der Vernunft eine bessere Welt zu schaffen - für alle, nicht nur für die, die ohnehin schon als Adlige in ein besseres Leben hineingeboren waren. Von der französischen Revolution erwartete man die Umsetzung dieser Ideen. Doch bald starb die Idee unter der Guillotine. Die sterbenden Menschen waren den deutschen Intellektuellen weit weg und interessierten nicht im philosophischen Diskurs. Dann kam im Gefolge Napoleons das Sterben auch über Deutschland. Die Kämpfer gegen die französische Besetzung kamen als Nationalisten aus den Befreiungskriegen zurück, unter den Folgen leiden wir heute noch. Vor ihrem Freiheitsdrang fürchteten sich bald auch die deutschen Herrscher. Die geistige Unterdrückung der Restauration war die Antwort. Das zarte Blümelein Romantik verbreitete sich aus den universitären Zirkeln von Jena und Heidelberg rasch als radikal antiaufklärerische Gegenwelt. Der Weg nach innen war der Weg, in der Welt realer politischer Unterdrückung Widerstand zu leisten, es sich aber auch behaglich einzurichten.
War die Aufklärung die große Zeit des Verstandes, so brachte die Romantik die Befreiung der Gefühle, der schwärmerischen wie der nachtschwarzen.
An Stelle der ordentlichen, vernünftigen Welt traten die Phantasiewelt, das Fragment, die Ruine, die radikale Subjektivität. Die Logik wich der Poesie und der Ironie. Das Ich ließ sich von der Umwelt nicht mehr abgrenzen. Sehnsucht prägte das romantische Denken und Fühlen: Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach der Überwindung des Irdischen. Man besang nicht mehr die helle Sonne, sondern den Mond und die Nacht. Den Tod wollte man nicht mehr überwinden, sondern mit ihm eins werden. An Gottes Stelle traten Geister. All das fand man in der Natur, vor allem im rauschenden, raunenden Wald. Die Natur war den städtischen Intellektuellen und ihrem Publikum eigentlich schon fremd geworden. Genauso fremd wie das sagenhafte Mittelalter, in dem man seine Werke gerne ansiedelte. Viele sahen im Mittelalter die gute alte Zeit, in der es noch keine Gegensätze gab und alles eins war: der Glaube, das Wissen, die Gesellschaft. Das Mittelalter hatte aber auch praktische Vorteile: Die Zensoren sollten nicht auf die Idee gefährlicher Aktualität kommen. Ohne benennbaren Ort und "zeitlos" ist auch der Wanderer oder fahrende Geselle, der ruhelos umherirrt. Von Eichendorffs Taugenichts über Schuberts Winterreise bis Wagners Fliegendem Holländer ist er das alter ego des Künstlers, der in der prosaischen Welt keinen Platz findet.
Nicht nur die Grenzen zwischen dem Ich und der Welt kamen ins Wanken, auch die Grenzen zwischen den Künsten. Der Schriftsteller und Musiker Schumann komponierte Märchenbilder, schrieb in den Kinderszenen das Klavierstück "Der Dichter spricht", zu dem es keinen Text gibt. In seinen Liedern behält immer wieder das Klavier das letzte Wort - es bringt Gedanken, die der menschlichen Stimme und Sprache nicht anvertraut werden. Die Geschwister Mendelssohn schrieben Lieder ohne Worte.
Unser Programm ist dem romantischen Chorlied gewidmet. Wir beschränken unsere Auswahl, die wir für die ersten Aufführungen im Jahr 1997 getroffen haben, auf das Schaffen der vier Jubilare dieses Jahres: Franz Schubert, 200 Jahre zuvor geboren, die Geschwister Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel, beide vor 150 Jahren gestorben, und Johannes Brahms, gestorben vor 100 Jahren. Bei den Gedenkfeiern wurde Fanny Hensel aus unerfindlichen Gründen meist vergessen. An der Qualität ihrer Werke kann es nicht liegen, wie sich leicht feststellen läßt.
Wenn die Komponisten dem Chor auch nicht ihre extremsten Gefühle und Gedanken anvertrauten (die waren dem Soloklavier vorbehalten), so zeigt sich auch hier ein eindrucksvolles Spektrum. Es reicht vom heiteren Gelegenheitschor Schuberts über Mendelssohns unsterblichen Abschied vom Walde, über Brahms’ Liebeslieder-Walzer, die die unerfüllte Liebe besingen, Fanny Hensels sehnsuchtsvolle, so gar nicht biedermeierliche Gartenlieder bis zu Brahms’ tiefernstem Herbstlied, in dem die Natur nur noch als Symbol der irdischen Vergänglichkeit steht.
Am Anfang stehen Schuberts heitere Gesellschaftslieder, zu denen wir uns eine "Schubertiade", so der Name der berühmten künstlerischen Treffen in seinem Freundeskreis, vorstellen können. Unser Plakat zeigt eine zeitgenössische Darstellung. Diese Lieder haben textlich und musikalisch noch feste Wurzeln im gerade vergangenen Jahrhundert. Manche von ihnen mögen spontan gedichtet und vertont worden sein, wie Der Tanz aus Anlaß der Genesung der tanzwütigen Tochter Irene des Schubertfreundes Kiesewetter. Wie ernst ihre Krankheit war, lassen Text und Musik zweideutig offen.
Wie viele romantische Künstler griff der Musiker Schubert die Volkskultur auf als Quelle des Ursprünglichen, unverdorben von der modernen Welt. Auch Brahms liebte Volkslieder und -musik. Die Liebeslieder-Walzer, entstanden aus Anlaß von Landpartien an der Ahr mit Sängerfreunden und haben die Volksliedsammlung Polydora von Georg Friedrich Daumer zur Vorlage. Es handelte sich vorgeblich um Daumers Übersetzung russischer, ungarischer und serbischer Volkslieder, in Wahrheit waren es seine eigenen Dichtungen. Wenn Brahms um diesen kleinen Betrug gewußt hätte, hätte es ihn wohl nicht gestört, denn wie viele Romantiker versuchte er selbst im Volkston neu zu schaffen. Davon zeugen die Ungarischen Tänze ebenso wie die Liebeslieder-Walzer. Diese greifen folkloristische Elemente und Harmonien auf, jene verbinden das Volksliedhafte der Texte mit der Volkstümlichkeit des Walzers (oft sind es eher Ländler als Walzer) und Brahms’ eigener kontrapunktischen Meisterschaft.
Die Gartenlieder von Fanny Hensel und die Chöre Im Freien zu singen von Felix Mendelssohn Bartholdy, die auf das Klavier verzichten, sind bei ihrer scheinbar schlichten Volkstümlichkeit vielschichtiger Ausdruck romantischen Lebensgefühls. Die Phantasie der Geschwister entzündete sich wie bei den meisten romantischen Komponisten besonders gerne an der Poesie Eichendorffs. Wie kein anderer versetzte Eichendorff seine Leser und Hörer in eine märchenhafte Welt, in der trotz aller Rätsel und Gefahren letztlich alles zum Besten bestellt ist. Hinzu kommt, daß seine Sprache, seine Verse so klangvoll sind, daß sie auch ohne Vertonung schon reine Musik scheinen. So liegt es nahe, in diesem Programm puren Eichendorff mit Eichendorff-Vertonungen zu verbinden.
Bei aller Ähnlichkeit der musikalischen Sprache der Mendelssohns haben ihre Eichendorff-Vertonungen doch unterschiedlichen Charakter. Beide kennen den Wald, der im Mittelpunkt der Eichendorffschen Welt steht, nur von ihren Bildungsreisen. Felix’ Chöre haben eher den Charakter gesellschaftlicher Ereignisse und Sehnsüchte. Fanny läßt diese Welt heiterer Sehnsucht hinter sich und beschreibt, ähnlich Brahms’ Waldesnacht, tiefernste seelische Zustände, etwa in Abendlich. Diese Chorlieder führte sie in den berühmten Sonntagskonzerten im Gartensaal ihrer Wohnung auf. Die Überschreitung der Grenzen der Künste findet sich ebenso beim Musiker Mendelssohn; er zeichnete das Gartenhaus seines Elternhauses, wo seine Schwester Fanny mit ihrem Mann, dem Maler Wilhelm Hensel, wohnte. Von diesem stammen wiederum verschiedene Zeichnungen der komponierenden Geschwister. Fannys Mann Wilhelm war zugleich ein begabter Dichter, dessen Texte häufig von seiner Frau vertont wurden. Paul Heyse, der Sohn des Mendelssohnschen Hauslehrers Karl Heyse, dichtete übrigens die Waldesnacht, die wir in der Vertonung von Brahms zu Gehör bringen.
© Joachim Risch, 1997