Heinrich Schütz
1585-1672
aus: Symphoniae sacrae
aus: Geistliche Chormusik
Heinrich Schütz
geboren 8. Oktober 1585 in Köstritz
gestorben am 6. November 1672 in Dresden
Da keiner wie er aufs Wort setzte und seine Musik einzig dem
Wort zu dienen hatte, es deuten, beleben, seine Gesten betonen
und in jede Tiefe, Weite und Höhe versenken dehnen erhöhen wollte,
war Schütz streng mit Wörtern und hielt sich entweder an die
überlieferte lateinische Liturgie oder an Luthers Bibelwort.
(Günter Grass: Das Treffen in Telgte)
Man wird Heinrich Schütz nicht gerecht, wenn man sich seinem Werk rein musikalisch nähert. Denn das besondere Merkmal seines Schaffens ist die Ausdeutung der Sprache. Sie unterscheidet sich von seinen italienischen Vorbildern und war in dieser Intensität im deutschen Sprachraum vorher unbekannt. Es ist kein Zufall, daß nur Vokalwerke überliefert sind, fast alle auf geistliche Texte. Das Wort steht im Vordergrund, die Musik dient ihm, unterstreicht es, ergänzt es, legt es aus.
Schütz' Amt als sächsischer Hofkapellmeister ließ erwarten, daß er sich mehr der höfischen und der repräsentativen Musik gewidmet hätte, zumal sein Landesherr, Kurfürst Johann Georg I., nicht gerade für seine Frömmigkeit bekannt war. Die überragende Bedeutung der geistlichen Musik in seinem Schaffen spiegelt seinen starken Glauben ganz persönlicher Ausprägung. Aber in seiner Epoche war ein privater Glaube, von den Zeitläufen unberührt, nicht möglich. Kurz nach seinem Amtsantritt am (protestantischen) Dresdner Hof brach der Dreißigjährige Krieg aus. Die Folgen waren für die Menschen in Mitteleuropa verheerend, auch wenn sie - wie Schütz - von Kampfhandlungen verschont blieben. Absurderweise wurde das dreißigjährige Töten und Verwüsten als Ringen um den wahren Glauben, den katholischen oder protestantischen, gerechtfertigt. Damit war jeder, der sich zu einer Glaubensrichtung bekannte (also jeder), automatisch Gegner der anderen Kriegspartei, ob er es wollte oder nicht.
So gewinnt es an Bedeutung, daß Schütz' Kompositionsweise in einer lutherischen Tradition steht. Luther war ja nicht zuletzt angetreten, durch die Volkssprache jedem Gläubigen einen direkten Zugang zum Wort Gottes zu ermöglichen. Wie Luther der deutschen Sprache eine neue Qualität gab, reformierte Schütz die musikalische Rhetorik. Viele Sprachbilder seiner Vertonungen wurden von der Generation seiner Schüler in ein festes Regelwerk gefaßt und blieben als barocke Figurenlehre bis ins Bachs Zeiten verbindlich. Seine italienischen Zeitgenossen, die für ganz Europa Vorbild waren, komponierten den Affekt, den Gefühlsgehalt des Textes. Schütz hingegen orientierte sich am Sinn einer Phrase. Seine Musik schmeichelt dem Ohr nicht, sondern führt in die Tiefenschichten des Textes. Das gibt seinen Vertonungen oft eine theologische Dimension. Auch wenn sich die katholischen Kirche in Ansätzen der Volkssprache öffnete, konnte man das als protestantische Parteinahme ansehen. Aber letztlich ist seine Auslegung der Bibeltexte universell. Uns sind von Schütz bewegende Klagen über den Krieg überliefert, briefliche wie musikalische, aber keine parteiischen Stellungnahmen.
Unser Programm stellt Motetten zusammen, die sich mit menschlichem Leiden und Verlorenheit ebenso wie mit Trost befassen. Sie nehmen nicht nur Bezug auf die Passionszeit, sondern reflektieren unmittelbar die Lebenserfahrungen und die Glaubensnöte von Schütz und seinen Zuhörern.
Die Motetten Deus misereatur nostri (Herr Gott, hilf und erbarm dich unser), Aspice, pater piissimum filium (Schaue doch, Vater, den Sohn) und Heu mihi, Domine (O weh mir, Herr, mein Gott) entstammen der Sammlung der Cantiones sacrae aus dem Jahre 1625 und sind noch in lateinischer Sprache, die ja auch bei den Protestanten noch bis in Bachs Zeiten neben der Landessprache im Gebrauch war. Es sollte aber seine letzte lateinische Sammlung bleiben.
1602 veröffentlichte Cornelius Becker den Psalter Davids Gesangweis, eine gereimte Übersetzung aller 150 Psalmen. Schütz vertonte diesen Becker-Psalter 1629 in Choralform. Wie er im Vorwort schrieb, diente ihm die Komposition zum Trost nach dem frühen Tod seiner Ehefrau. Daraus haben wir Psalm 88 Herr Gott, mein Heiland, Nacht und Tag ausgewählt.
1648, kurz vor Kriegsende, erschien die Geistliche Chormusik. Mit Rücksicht auf die Notzeiten bestimmte Schütz sie für eine kleine Besetzung und wies im Vorwort darauf hin, daß auf Instrumentalbegleitung ganz verzichtet werden kann. Denn an den wenigsten Orten gab es noch funktionierende Orchester. Im künstlerischen Anspruch macht das Werk aber keinerlei Abstriche. In den Motetten Verleih uns Frieden genädiglich und Die mit Tränen säen kombiniert er eine etwas veraltete Kontrapunktik mit seiner inzwischen voll entwickelten konsequenten Textorientierung.
Die fünfstimmige Motette Die mit Tränen säen soll als Beispiel dienen, wie jeder Satzteil, jeder Gedanken eigenes musikalisches Material erhält. Während in früherer Musik die einzelnen Teile fließend ineinander übergingen und teilweise verschiedenen Textzeilen gleichzeitig erklangen, grenzt Schütz die Gedanken scharf voneinander ab. Das macht seine Musik manchmal etwas kurzatmig, aber beim Hören setzen sich die Bilder unmittelbar um:
Die mit Tränen säen: ruhige, weinende Linien, Moll, Chromatik; werden mit Freuden ernten: fröhlicher, schneller Dreiertakt, Dur, Diatonik, atemlose Wiederholung des Wortes "Freuden"; Sie gehen hin: ruhige Aufwärtsbewegung; und weinen: chromatische, schmerzliche Abwärtsbewegung, schluchzende Tonwiederholungen; und tragen edlen Samen: eine Folge von Kadenzen als Bild für Wurzeln schlagen; und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben: lebhafte Bewegung, Betonung von Freuden, Kadenzierung auf Garben. Durch vielfache Wiederholung dieses letzten Satzes wird die Größe der Freude und die Vielfalt der Garben unterstrichen.
Auf diese Weise lassen sich in jedem der Schütz'schen Werke Bilder und Figuren heraushören, die den Text unterstreichen und ausdeuten. Es ist seiner künstlerischen Meisterschaft zu verdanken, daß man sich gar nicht analytisch mit einem Werk auseinandersetzen muß, da die Umsetzung der musikalischen Mittel beim Hörer genau die Bilder, Gedanken und Gefühle hervorruft, die der Komponist beabsichtigte.
Soweit sich die Spuren des Gesanges in der Kirche zurückverfolgen lassen, spielt die musikalische Darstellung der Leidensgeschichte Jesu immer eine besondere Rolle. Im frühen Mittelalter bereits wurde der biblische Passionsbericht in der Karwoche mit verteilten Rollen vorgetragen, zuerst gesprochen, dann auf einem Ton gesungen. Später sang der Evangelist auf einem höheren Ton, Christus auf einem tieferen. Allmählich entwickelte sich der einstimmige, später der mehrstimmige Gesang. Heute kennen wir vor allem die Bachschen Passionen als Gipfel dieser Entwicklung. Schütz ist aber keineswegs Vorläufer in einer konsequenten Entwicklung hin zu den Bachschen Werken, sondern hat in ihrem Stil einzigartige Werke geschaffen.
Die meiste Zeit seines langen Lebens war Schütz Vorreiter der musikalischen Moderne. Den neuen dramatischen Stil hatte er selbst über die Alpen nach Norden gebracht. Am Ende seines Lebens kümmerte er sich aber nicht mehr um Modernität. Das zeigen seine Vertonungen der Passionsberichte nach Lu-kas, Matthäus und Johannes für die Dresdner Hofkirche. Die vier Evangelien waren dort für verschiedene Gottesdienste der Karwoche vorgesehen, die Passion nach Johannes für den Karfreitag. Am Karfreitag 1665 wurde die Johannes-Passion des fast achtzigjährigen sächsischen Hofkomponisten Heinrich Schütz dort erstmals aufgeführt.
Schütz mied den zeitgemäßen Stil dramatisierter Passionsoratorien mit freier Dichtung, wie sie in seiner Zeit schon in Italien und Deutschland üblich waren. Vielmehr griff er auf die jahrhundertealte Tradition des einstimmigen unbegleitenden Gesanges im Lektionston zurück. Statt der Dur-/Moll-Tonalität der Moderne vertonte er seine Passionen in jeweils einer anderen Kirchentonart, sorgfältig dem Charakter des Evangelisten angepaßt. In der Johannes-Passion ist es der phrygische Modus, der sich für den Ausdruck schmerzlicher Affekte besonders eignet.
Schütz verwendet ausschließlich den biblischen Bericht, welchen der Evangelist und die handelnden Personen (Jesus, Pilatus, Petrus und andere) in unbegleiteten Rezitativen vortragen. Bescheiden tritt er hinter das Bibelwort zurück. Er versucht nicht mehr, mit musikalischen Mittel zu beeindrucken. Der mittelalterliche Lektionston wird aber kunstvoll erweitert zu einer einerseits kargen, andererseits höchst individuellen Vortragsweise, die dem Passionsgeschehen und den Affekten der handelnden Personen auf das Genaueste angepaßt ist. Hier greift Schütz im scheinbar rückwärtsgewandten Stil auf seine ganze Erfahrung mit der modernen rhetorisch orientierten Musik zurück. Die Äußerungen der Hohenpriester, der Kriegsknechte und des Volkes werden dem Chor in kunstvollem vierstimmigen Gesang, ebenfalls unbegleitet, übertragen. Sie bringen Dramatik und die erregten Gefühle der Massen ins Geschehen. Seine wortgebundene Kompositionsweise führt in den kurzen Chören auf engstem Raum zu einem Höchstmaß an Ausdruck und Charakterisierung. So etwa. das Durcheinanderplappern und sich anschließende Zusammentun in „Jesum von Nazareth“, der Spott und die Falschheit in „Sei gegrüßet“, die höchste Erregung der aufgepeitschten Massen in „Kreuzige“.
Der Chor umrahmt auch die ganze Passion mit einer kurzen Einleitung, die eine gesungene Überschrift ist, und mit einer „Beschluß“ genannten abschließenden Betrachtung. Es sind Stimmen der Gemeinde und die einzigen Texte, die nicht dem Passionsbericht des Johannes-Evangeliums entstammen.
JOACHIM RISCH
Literatur
- Hans Joachim Moser: Heinrich Schütz. Sein Leben und Werk. Kassel u. Basel: Bärenreiter 1954.